Samstag, Juni 02, 2007

Get Some Reward


Soviel ich mich auch über den extrem hohen Frustrationsgrad beklage, den der freie Journalismus mit sich bringt, wenn man den Krempel dann verkaufen muss: Die Chance, mit extrem interessanten Menschen sprechen zu dürfen macht einen zumindest in Momenten über all das erhaben. Eben bin ich fast euphorisch von einen einstündigen Interview mit dem Kunstkritker und AIDS-Aktivisten Douglas Crimp zurückgekommen.

So eine Lebensgeschichte! Der ist 1944 in einem klischeemäßigen US-Kaff geboren, da groß geworden und merkte irgendwann er ist schwul. Hatte aber keine Rollenvorbilder und keine Vorstellung davon, dass es außer seiner kleinen Welt noch was anderes gibt. Dann ist er 1962 als Undergraduate-Student nach New Orleans gegangen. Dort hat er - nach dem Kulturschock - gemerkt, wo's langegeht - zumindest für ihn. Hat auch ein bisschen länger gedauert, aber ist ja alles gut gegangen - er ist inzwischen Professor. 1967 ging er erstmal nach New York - Mitten ins Geschehen. Er fing an, am Guggenheimmuseum zu arbeiten und war so auch bald in der Szene drin. Die sei auch im Vergleich zu heute recht übersichtlich gewesen. Alle wichtigen Protagonisten hätte er zumindest vom Sehen gekannt - unter anderem Andy Warhol, zu dem er bis heute viel arbeitet, und dessen Umfeld. Anfang der 70er Jahre hat er sich erstmal ins schwule Partyleben von Manhatten gestürzt.

Dann hat er 76 sein Studium fortgesetzt weil er merkte, dass er als freier Schreiber nicht über die Runden kommt und es besser ist, im akademischen Feld zu arbeiten. 1978 wurde ihm die Mitarbeit am hochtheoretisierenden Kunstmagazin October angeboten, die er bis zu einem Streit 1990 lange Jahre als Mitherausgeber betreute. Irgendwann hat er dann auch zwischendurch seinen PhD gemacht. 1987 begann er für eine Ausgabe zum Thema AIDS - damals grad hochaktuell - zu recherchieren. Schnell kam er zur Aktivistengruppe ACT UP, bei der er vier Jahre mitarbeitete. Sein 1987 erschienenes Heft zu AIDS, dass auch weniger oder nichtakademische Texte enthielt, wurde zu einem Meilenstein und Standardwerk zum Thema, das bis heute in Buchform erhältlich ist. Ein weiteres Hauptthema von Crimp ist die Betrachtung und Dekonstruktion des Treibens in der Kunstwelt - der Museen als Institutionen, der Künstler und der Kunstkritiker. Im Moment arbeitet er an einem Essayband zu den Filmen Andy Warhols.

Im Übrigen sind oben nicht nur Crimps Hände zu sehen, weil er ansonsten unansehlich wäre - im Gegenteil - so ein Lebenslauf scheint jung zu halten. Wären da ein paar Falten weniger gewesen, hätte ich ihn auf Mitte 40 geschätzt. Und der Mann ist HIV-positiv - anscheinend aber auch den Zugang zu den entsprechenden Medikamenten. Trotzdem mahnt er an, nicht zu vergessen, dass a) viele Leute das Privileg nicht haben, weil die Medikamente scheissen teuer sind und es b) trotz medizinischer Versorgung nicht wirklich erstrebenswert ist, mit der Krankheit zu leben. Er wehrt sich jedoch vehement gegen diejenigen, die zur sexuellen Abstinenz raten oder gar der Homosexualität "abschwören" wollen. Seine Lösung ist eine starke und umsorgende gay community, wie er sie in den 70er und 80er Jahren erlebt hat. Dort hätte man sich gegenseitig über Safer-Sex-Praktiken ausgetauscht, was heute kaum noch passiere.

Es ist fast verständlich, dass Crimp ein wenig nostalgisch nach den 1970er Jahren ist - politisch und privat. Noch heute scheint er begeistert davon, dass er nach Stonewall endlich seine Homosexualität offen leben konnte - und es aus politischen Gründen auch für sich musste - und als offensichtlich politisch ziemlich links angesiedelter Mensch findet er den Backlash wahrscheinlich auch nicht so wirklich schön. Die extremen Licht- und Schattenseiten des schwulen Lebens im New York der 70er Jahre, die Crimp aber wahrscheinlich auch als sehr subkulturell empfunden hat, hat übrigens der afroamerikanische Fotograf Alvin Baltrop sehr lebensecht eingefangen, als er die Schwulenszene in den verfallenen Piers von Manhatten zu dieser Zeit der Deindustrialisierung der Halbinsel fotografierte (Piers heute). Gleichzeitig machten sich da aber auch Künstler wie Gordon Matta-Clark zu schaffen - der allerdings das schwule (und auch kleinkriminelle) Klientel der Piers buchstäblich ausschloss, indem er einfach ein neues Schloss einbaute, wenn er irgendwo künstlerisch aktiv wurde.

Solche Sachen lernt man in Interviews - die man entweder als unnützes Wissen verwerfen kann oder als das Faszinierende an unserer Welt empfindet, zumindest wenn dann mit der Zeit die ganzen Puzzelteilchen zusammenkommen.

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