Donnerstag, Februar 08, 2007

A Sort of Homecoming


Am Montag Abend sitze ich in diesem abgerockten Internetcafé. Ich war Stunden über den Brixon Market geschlendert (mehr Fotos vom Brixton Market hier und hier - letzteres nichts für Vegetarier, ohne Quatsch..).


In meinem Lieblingsbuchladen (siehe unten) hatte ich Max Decharnés Kulturgeschichte der King's Road und des hippen Londons der 50er, 60er und 70er erstanden.

In dem winzigen Internetcafé bin ich die einzige weiße Person. Der Besitzer ist ein riesiger älterer Afrikaner mit Afro. Neben mir sitzt ein vielleicht 15jähriger Bursche, milchkaffefarben, ebenfalls mit Afro. The return of the 60s. Sie beäugen mich leicht amüsiert und scheinen sich zu fragen, was ich da will. Die Computer sind so langsam, dass ich bei blogger.com gar nicht erst reinkomme, geschweige denn etwas schreiben kann.

Übernächtigte Erinnerungen an einen Flug, ein älterer britischer Gentleman mit weißen Haaren, der aus den 50er Jahren übrig geblieben zu scheint. Im Anzug, ohne Winterjacke. Als einziges Gepäckstück hat er einen arg mitgenommen aussehenden Gitarrenkoffer. Den will er nicht aus der Hand geben, als die Flughafenbeamten ihn mißtrauisch betrachten. Da wäre eine richtig teure Gitarre drin, die er seit 27 Jahren spielen würde und um nichts in der Welt ins Frachtgepäck geben würde.

In Stanstead am Ausgang dann viele Menschen mit handgemalten Schildern für Leute, die sie finden wollen. Ein älterer, ärmlich gekleideter, osteuropäisch aussehender Mann mit einem Schild mit der Aufschrift: E.T.A. Ein fideler National-Express-Busfahrer mit einem starken, unidentifizierbaren Akzent bringt uns nach London. Er erzählt einem Mitreisenden, dass er lange in Monaco gelebt hätte und da wohl noch Familie hat. Ich kann das Gespräch akustisch nur halb verstehen. Französisch war sein Akzent jedenfalls nicht, eher polnisch oder so.


In Victoria Station gehe ich rituell erstmal zum Zeitungskiosk und kaufe mir ein Time Out. Dann ein Dayticket für den Bus. Rufe Sue an, dass ich bald da bin. In der Stockwell Road erzählt mir mein Handy, dass die Karte ausgelaufen ist. Egal. Ich laufe den alten Weg an der Kirche vorbei zur Hargwyne Street. Sue und ich freuen uns, uns zu sehen. Wir führen Professor Ben, den Hund, in den Park spazieren und trinken italienischen Kaffee. Gehen in Sainsbury's einkaufen für das Abendessen: Tortellini, Forelle, Tomatensoße. Wir gewinnen einen Weißkohl.


Am späten Nachmittag ist Sue müde. Sie will Fernsehn gucken. Das ist bei ihr so. Man schaut fern, macht noch irgenwas anderes dabei, und unterhält sich. Ich bin das nicht gewohnt, zudem muß ich mich doch auf die fremde Sprache konzentrieren, auch wenn ich das meiste verstehe. Gehe raus: Brixton Market, der super sortierte Second-Hand-Buchladen in Coldharbour Lane, Internetcafé.


Danach suche ich die Galerie, in der die Trent-Park-Fotos ausgestellt sind. Nicht Electric Avenue, sondern Electric Lane, lerne ich nach 20 Minuten auf und ab in der Straße. Hat aber eh zu, gehe am nächsten Tag hin. Wieder bei Sue, treffe ich Yan, Sues Sohn. Der ist gerade wieder mit irgendwelchen Deals beschäftigt und ansonsten maulfaul. Wollte als Musiker berühmt werden. Mit über 30 hat er sich für eine Karriere als Elektriker entschieden. Zwangsläufig.

Finde ein Hochzeitsfoto von einem jamaikanischen Paar auf Sues Küchentisch. Denke, das könnte Bibi sein, die Nachbarin. In böser Vorahnung frage ich Sue nach ihr. Sie sei am Freitag gestorben. Alles habe damit angefangen, dass sie vor einem Jahr die Fenstereinfassungen an ihrem Haus in einem Pissgelb habe streichen lassen. Die Nachbarn hätten sich alle über ihren schlechten Geschmack lustig gemacht, aber keiner hat es ihr ins Gesicht gesagt. Sue war die Einzige, die es ihr direkt gesagt hätte. Bibi war verletzt. Ging kaum noch aus dem Haus. Weihnachten hat sie bei Maureen die Straße hoch gefeiert. Sue war auch da. Kinder hatte Bibi nicht, der Mann war schon vor langer Zeit an einem Herzinfarkt gestorben. Letzte Woche sei man dann in Bibis Haus eingestiegen, weil man sich Sorgen machte. Alles wäre total verwahrlost gewesen. Die Möbel standen noch in der Zimmermitte von der letzten Renovierung, in der Küche Essensreste mit Schimmel. Maureen und Sue haben geputzt. Dann kam Verwandschaft von Bibi irgendwoher, zur Nachlassverwaltung. Bibi will in Jamaica begraben werden, neben ihrer Mutter. Am nächsten Tag fotografiere ich die pissfarbenen Fenster.



Abends bin ich zu müde um wegzugehen. Muß auch fit sein für das Interview am nächsten morgen. Sue schaut sich zweiten Teile von irgendwelchen Fernsehkrimis an und wir quatschen. Dizzy, der Barrelhouse-Piano-Spieler, kommt. Durch den hatte ich Sue vor über 10 Jahren kennengelernt. Er wohnt bei ihr zur Untermiete, wenn er in London ist und ich habe damals das zweite Zimmer gekriegt. Dizzy geht wieder. Sue hatte ihm gesagt, dass ich komme, und sein Zimmer haben soll. Ich hätte auch auf den "Settee" geschlafen, aber Sue wollte es so. Danke Sue, danke Dizzy.


Am nächten Morgen auf dem Weg zum großen Interview mit Tony Visconti (Ausschnitte und Beitrag dazu hier), von dem ich mir viel verpreche, was auch gehalten wird. Brixton Line, in Green Park umsteigen. Picadilly Line bis Glouchester Road. Ein victorianisches Hotel in Chelsea, obere Mittelklasse, schätze ich. Habe keine Ahnung von Hotels, und auch nicht so wirklich von Architektur. Vielleicht ist es auch gregorianisch. So ein weißes Ding mit Säulen davor, typisch London. Soll Meister Visconti in seinem Hotelzimmer anrufen. Mache mich noch etwas zurecht, als mich ein kräftiger, großer Ami in meinem Alter anspricht: Hallo, ich bin Joe D'Ambrosio, Tonys Manager. Wir richten uns in der Lounge ein, weil er Tony nicht zu nahe treten will und nicht fragen mag, ob wir das Interview in seinem Zimmer machen können. Aber Tony kommt und sagt sofort: Hier ist es doch ungemütlich. Lass uns das bei mir machen. Er wirkt enspannt und angenehm. Obwohl er in seiner Körpersprache selbstsicher ist, scheint er doch etwas aufgeregt zu sein, weil er doch nicht so viele Interviews gewohnt ist, oder weil es um seine Autobiografie geht.


Er erzählt in epischer Breite Teile aus dem Buch nach, nur wenn man nachhakt auch mal frei. Es ist trotzdem faszinierend und ich schaffe es nicht, ihn zu unterbrechen. Zweimal irritiere ich ihn, weil eine Geschichte aus dem Buch nicht stimmt, und dann ist er sich nicht sicher, wo "Heroes" abgemischt wurde. Auf dem Cover steht Mountain Studio Montreux. Er reckt seinen Hals hoch und runter wie ein irritierter Haubentaucher und horcht in sich. Aber doch, es sei in Berlin gewesen. Er könne sich an eine Situation erinnern, wo sie ein ewig langes Stück Band gehabt hätten, auf dem ein einziger Loop war. Bowie hätte sich in die Mitte gestellt, um die Längenverhältnisse zu demonstrieren. Davon hätte er ein Foto, das wäre auf seinem Computer. Leider kam ich nicht dazu, es zu sehen. Just als wir über meine All-Time-Lieblingsplatten, Bowies "Berlin-Trilogie", sprachen, ruft die Dame vom Verlag an. Die dreiviertel Stunde Interviewzeit sei vorbei. Ich war total erschrocken, weil ich die Zeit komplett vergessen hatte. Ich bekomme noch eine viertel Stunde. Wir sind immer noch bei den Berlin-Platten, als es wieder klingelt. Dann muß Visconti zu einem berühmten Fernsehmenschen namens Steve W. - 7 Millionen Zuschauer. No way to miss that. Aber ich kann es nicht glauben: Ich bekomme noch einmal Zeit geschenkt, wenn ich um 5 wieder vorbeikomme.

In einem indischen Restaurant ziehe ich die Tracks auf den Rechner. Einer hakt. Bitte nicht. Alles nochmal gut gegangen. Mein Geld ist auch endlich auf der Bank. Ich kaufe mir ein Buch von Richard Powers, The Time of Our Singing, und eins über die britischen Medien. Lese in einer Autobiografie von Steve Strange, welchen Einfluß Bowie auf sein Image hatte (einen massiven). Fahre nochmal zurück nach Brixton. Mache Fotos von Bibis Haus und schaue mir die Ausstellung an. Dann wieder nach Chelsea. Gehe im Hyde-Park an der Serpentine spazieren. An dem neuen Diana-Memorial ist eine ausführliche Gebrauchsanweisung angebracht (Foto folgt). Auf dem Weg zum Hotel verlaufe ich mich. Dadurch komme ich aber durch nette Straßenzüge mit kleinen Häuschen wie in der Vorstadt (der edleren), ganz ruhig und nicht wie im Zentrum von London. Was die Teile kosten möchte ich nicht wissen. Komme noch pünktlich. Visconti sagt, er sei tot. Gibt mir trotzdem nochmal zwanzig Minuten und hört erst auf, als er wirklich nicht mehr sprechen kann. Wir sind immer noch nicht fertig - ich hätte noch für eine Stunde dringende Fragen. Er macht noch ein paar Fotos von mir mit meinem Fotoapparat. Nach einem kurzen Anfall von Enthusiasmus hat aber doch nicht mehr den Nerv, sich richtig mit der Kamera zu beschäftigen. Die Fotos sind dann auch nicht so richtig vorteilhaft. Sieht er auch so und gibt auf. Zum Schluß eine Umarmung. Ein Tai-Chi-gestählter Körper wie ein Zwanzigjähriger.


Ich komme 10 Minuten zu spät zu Sue - sie hatte mir ihren Schlüssel ausgeliehen. Glücklicherweise war Dizzy da, sonst wäre sie stocksauer gewesen. So war alles gut. Sie ist nur müde. Maureen kommt vobei, Sues beste Freundin, die ein paar Häuser weiter wohnt. Wir freuen uns, uns zu sehen. Aber viel zu reden gibt es nicht. Sie ist auch noch traurig über Bibis Tod - sie waren eng befreundet. Regt sich über die ganzen Leute in der Straße auf, die jetzt plötzlich Trauer heucheln und sich zu Lebzeiten nie für Bibi, die in den 60er Jahren aus Jamaica eingewandert war, gekümmert hätten. Habe noch eine Kassette mit ihrer Lebensgeschichte - oder Teilen davon - irgendwo rumfliegen. Die hatte sie mir 1999 mal erzählt, bei einem karibischen Essen. Weiß gar nicht, ob ich ein Foto von ihr habe. Muß ich mal schauen.

Ich koche das Essen von gestern auf - Sue hat den ganzen Tag gekocht und keine Lust mehr. Sie beschwert sich, dass sie keine rote Beete und keine Gurken in ihrem Salat finden kann. Ich eile in die Küche um ihr welche zu bringen. Wir lachen. Schauen das englische Abendprogramm. Auf Channel 4 eine Serie namens "Shameless", mit einem Proll-Alki-Familienpatriarch, der nach einer Eskapade zu seinen Lieben zurückkehrt, um wieder deren Oberhaupt zu sein, "his rightful place", Teenager-Mädchen, die von ihren Müttern losgeschickt werden endlich jemanden zu finden der sie fickt, Jungs, die sich ineinander verlieben. Einer davon ein (scheinbar) ganz Harter, der zuschaut, wie sein Hund den neuen farbigen Nachbarn angreift, und laut schreit "You fucking cunt" (hört man normalerweise nicht im englischen Fernsehen), in tiefster, halb erwiderter Verknalltheit "I love you" zum Nachbarsjungen mit dem Proll-Alki-Vater sagt, und sich in die Hose faßt, weil er eine Latte hat.

"Welcome to England" sagt Dizzy. Er schaut sich lieber schnulzige romantische Serien aus dem Mittelklassemilieu an, wo niemand "cunt" sagt. Ein letzter Ausflug nach Brixton Station, um nach dem Nachtbus zu schauen. Fahre dann doch von Stockwell Road. Sue geht ins Bett und fragt wann ich wieder komme. Ich nehme sie in den Arm und wünsche ihr eine gute Nacht. Dizzy schaut noch weiter Fernsehen - ich würde mich gern hinlegen. Auf seine schwerfällige Art versucht er ein Gespräch anzufangen. Ich bin zu müde und lasse mich von der Flimmerkiste ablenken.

Schlafe noch drei Stunden, gehe in Trance zum Bus nach Victoria. In Deutschland waren in der frühen S-Bahn zum Flughafen ausschließlich weiße Männer, hier scheinen um 4 ausschließlich farbige Frauen zur Arbeit zu fahren. Im Flughafen fahre ich noch mal kurz einen Film als ich erfahre, dass ich nur eine Tasche Handgepäck mitnehmen darf. Auf dem Hinweg waren zwei kein Problem. In meinem übermüdeten Zustand mache ich die Angestellten ziemlich blöd an. Schaffe es aber irgendwie, alles in eine Tasche zu stopfen, auch wenn alles oben rausquillt. "This is one bag, isn't it," herrsche ich den armen Burschen an. Er schaut verzweifelt und meint: "I suppose so."

Goodbye London.

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4 Comments:

Blogger Neil Sun said...

Nice pics.

11:41 AM  
Blogger CoolBee said...

Thanks. I took them during a 2-day stay in London and thats what I'm writing about in the text.

12:01 PM  
Anonymous Anonym said...

Kuschelige Wohnung von Sue - und natürlich die obligatorige Katze. Hört sich nach nem prima London Ausflug an. Wo war Anna ?

5:42 PM  
Blogger CoolBee said...

2 Katzen und ein Hund! Anna hatte leider keine Zeit, schade. War mit einer aufstrebenden Singer-Songwriterin beschäftigt. ...Nash oder so? Aber war in der Tat super, super, super und viel zu kurz! Den Beitrag zu Visconti lade ich demnächst hoch, aber im Prinzip war das ganze 1:20:00 Interview von vorne bis hinten megaspannend...

12:24 AM  

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